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Über „online“ zur neuen Vielfalt



“There is only one danger I find in life and that indeed is a real one. You may take too many precautions.”

- Alfred Adler


Im Februar 2020, kurz vor Beginn der Corona Pandemie, saß ich im Zug auf der Rückfahrt von München nach Hause. Hinter mir lagen drei intensive Beratungstage vor Ort mit Einzelcoachings, Supervision und Lehrberatung. Ich war etwas erschöpft, aber sehr zufrieden.

Dann kam die Nachricht mit der Ankündigung des ersten Lockdowns für Deutschland. Ich schaute aus dem Zugfenster und empfand das alles als ziemlich unwirklich. In meinem Kopf tauchten viele Fragezeichen auf. Das „Unwirkliche“ wurde schnell zur Wirklichkeit. Beratungsmäßig wurde ich von Hundert auf Null gesetzt. Alle meine Präsenztermine in den Folgewochen mussten abgesagt werden.

Stillstand! Nichts ging mehr.

Nach einer Woche meldeten sich die ersten Klient*innen mit der Frage: „Und jetzt? Wie arbeiten wir weiter?“

„Geht nicht, gibt’s nicht!“ hatte ich in der Kindheit gelernt. „Wenn wir auch heute nicht wissen, wie es gehen kann; vielleicht haben wir morgen eine Idee.“


1. Phase: Gemeinsam lernen

Bis dato hatte ich entweder in Präsenz beraten oder per Telefon. In den laufenden Beratungsprozessen waren innere wie äußere Klärungsprozesse angestoßen, die man nicht einfach „anhalten“ konnte.


  • Beispiel A: Beraterkollege, hatte soeben seine feste Stelle gekündigt und war im Übergang in die Selbständigkeit. In den letzten Sitzungen hatten wir intensiv an seinem Portfolio gearbeitet und viel visualisiert. Und jetzt? Wir entschieden uns für Video per Facetime. Er visualisierte die erarbeiteten Punkte mit Metaplankarten bei sich zu Hause und ich konnte per Kamera zuschauen. Er nutzte drahtlose Kopfhörer und so konnten wir sprechen während er sich im Raum bewegte. Nach zwei Sitzungen schrieb er mir: „Ich habe Miro, ein elektronisches Whiteboard entdeckt und alle bisherigen Visualisierungen dorthin übertragen.“ Nächste Sitzung: Miro über den großen PC-Bildschirm und parallel Gespräch per Telefon. Am Ende jeder Sitzung reflektierten wir unsere Arbeitsform. Was hatte gut geklappt, wo hatte es noch gehapert etc.? Wir lernten gemeinsam und blieben dabei im Beratungssetting rollenklar.

  • Beispiel B: Eine laufende Konfliktberatung mit zwei Geschäftsführer*innen eines mittleren Unternehmens. Für die beiden bzw. das Unternehmen stand Einiges auf dem Spiel. Also Fortsetzung der Gespräche per Video. Das Unternehmen, das für die eigene Arbeit hohe Sicherheitsstandards erfüllen musste, hatte sich für ein spezielles Videosystem entschieden, das mir bis dahin unbekannt war. Also Software runterladen, mich vom Systemadministrator einweisen lassen und los ging‘s. Ich saß zu Hause vor dem Bildschirm, die beiden saßen in einem Besprechungsraum im Unternehmen gemeinsam vor der Kamera. Nach zwei Stunden intensiven Sprechens waren wir einen Schritt weiter und alle ziemlich erschöpft. Weitere Sitzungen folgten.


Fazit dieser ersten Phase: Ich hatte eine sehr steile Lernkurve hinsichtlich der Nutzung von diversen Videosystemen und ergänzender Software.


2. Phase: Kennenlernen per Video

Nach einigen Wochen kamen die ersten Neuanfragen nach Coaching. Da man sich nicht in Präsenz sehen konnte, erfolgte das Kennenlernen per Video als Entscheidungsgrundlage für gemeinsames Arbeiten. Meist bestand der Wunsch, sich danach, sobald wie möglich, persönlich kennenzulernen. Zum Glück kam der Sommer mit Lockerungen und man konnte sich unter Einhaltung der RKI-Sicherheitsstandards in Präsenz sehen. Die Fortsetzung der Arbeit im zweiten Lockdown per Video oder Telefon war dann problemlos.


3. Phase: Reine Online-Beziehungen


Mit dem zweiten Lockdown im November – bis jetzt andauernd – begann die dritte Phase, in der sich Beratungsbeziehungen als reine Online-Beziehungen entwickelt haben. Anfrage in der Regel per Mail, dann Abklärung „Wie soll das Kennenlernen stattfinden, per Video oder per Telefon?“

Immer häufiger kommt der Kommentar: „Ich bin ‚zoommüde‘, gerne per Telefon.“

Und wenn es zur Arbeitsvereinbarung kommt, finden die Gespräche immer öfter per Telefon statt. Einige der Klient*innen aus dieser Zeit, werde ich vermutlich nie persönlich kennenlernen.

Aus der Notlösung wird eine geniale Idee

Lockdown heißt vielfach Homeoffice und auch Homeschooling. Die ganze Familie braucht plötzlich einen internetfähigen und möglichst ungestörten Arbeitsplatz zu Hause. Dann kann es dann schon mal sein, dass eine Coachee keinen Raum hat, um ungestört mit mir zu sprechen/zu telefonieren. Lösung: Stöpsel ins Ohr, Handy in die Tasche, warm anziehen und raus geht’s. Diese Variante – aus der Not geboren – wurde für eine Coachee aus ihrer Sicht zur „genialen Idee“, weil sie die Erfahrung gemacht hat, dass sie ihre Gedanken im Gehen ausgesprochen gut sortieren kann. Wir werden dieses Setting beibehalten.

Ähnlich verhält es sich mit der Kombination von Coaching und Spazierengehen. Im letzten Jahr habe ich angesichts der Kontaktbeschränkungen beim Wunsch nach Präsenzcoaching angeboten: „Wir können das Gespräch auch bei einem Spaziergang führen.“ Mittlerweile hatte ich Coachings beim Gehen durch Felder, rund um einen nahegelegenen See oder durch einen Park.


Fazit: Was coronabedingt als Einschränkung auf „online“ begann, mündet in einer Formenvielfalt, die ich als sehr bereichernd empfinde und die Corona überdauern wird.


„Stillstand ist nicht immer Rückschritt, sondern manchmal sogar Fortschritt.“

- Klaus Seibold



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