„Als ich des Suchens müde ward, erlernte ich das Finden.“
- Friedrich Nietzsche
In meiner Beratungsarbeit gibt es unterschiedliche Wege, Erkenntnisse zu gewinnen. Zwei davon sind Intuition und Abduktion, auf diese möchte ich nachfolgend das Augenmerk richten.
Abduktion
Die Basis meiner Beratungsarbeit ist die von Alfred Adler begründete Individualpsychologie. Es ist eine Sozialpsychologie, die den Menschen als unteilbare Einheit als „Individuum“* versteht. Adler ist der Auffassung, dass man das Verhalten eines Menschen nur verstehen kann, wenn man ihn in seinen sozialen Bezügen betrachtet. In der Individualpsychologie geht man davon aus, dass jeder Mensch unbewusst nach einem inneren Bewegungsgesetz handelt, das er sich im Laufe der Sozialisation angeeignet hat (Lebensstil). Dieses innere Lebensmuster durchzieht das Verhalten in allen Lebensbereichen und findet seinen Ausdruck in den täglichen Handlungen. Aus Teilbewegungen heraus kann auf das Grundmuster geschlossen werden. Wenn man Worte, Gedanken, Gefühle und Handlungen miteinander kombiniert, kann man den tieferen Sinn erfassen. „Nicht anders ‚als die Kunst’ verlangt auch die Seelenkunde jenes starke, intuitive Erfassen ihres Stoffes, ein Eingreifen und eine Ergriffenheit, die über die Grenzen der Induktion und Deduktion hinausgehen“ (Adler 1973, S.123).
*In-dividuum: aus dem Lateinischen „dividere“ = teilen, mit dem verneinenden „in“ also ungeteilt/unteilbar
Dieses intuitive Erfassen, das über Induktion (vom Einzelfall auf das Allgemeine, Gesetzmäßige schließen) und Deduktion (Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen) hinausgeht, nennt Adler die Fähigkeit des Erratens. Das heißt, wenn ich als Beraterin einem unerklärlichen Verhalten, Phänomen gegenüberstehe, entwickle ich Vermutungen. Ich unterstelle ein hypothetisches Gesetz, demzufolge das Verhalten nicht mehr sonderbar wäre, sondern ein ganz vernünftiges Resultat logischen Handelns. Meine Vermutungen und Hypothesen biete ich meinem Gegenüber an. Mit anderen Worten: ich stelle neue Bezüge und Vernetzungen zwischen bisher isoliert gesehenen Informationen her, um darüber die innere Logik/das innere Gesetz (die private Logik) zu erschließen. Die Überprüfung des entdeckten Musters auf seine Richtigkeit liegt allein beim Ratsuchenden.
Aus der Perspektive einer Ratsuchenden klingt diese Vorgehensweise wie folgt: „Wichtig war für mich, dass die Beraterin es verstand, meine als Chaos empfundenen Gedanken und Gefühle zu verknüpfen und so ein Lebensmuster erkennen zu lassen, das mir half, private wie beruflich problematische Beziehungen und Rollen klarer zu sehen und bewerten zu können. Das Muster so klar vor Augen, konnte ich mir die Frage stellen, ob die Zeit reif ist, es zu verändern.“
„Deduktion beweist, daß etwas sein muß; Induktion zeigt, daß etwas tatsächlich wirkt, Abduktion legt nur nahe, daß etwas sein kann.“
- Charles Peirce
Bewusstheit zu ermöglichen ist nicht zu verwechseln mit Bewusstmachen. Es geht nicht darum, dass die Beraterin weiß, oder versteht, was sie dem Gegenüber bewusst macht, sondern es geht darum, förderliche Bedingungen zu schaffen und Interventionen zu wählen, die Bewusstheit entstehen lassen (vgl. Fuchs-Brüninghoff, 2005).
In der Wissenschaftstheorie wird diese Art des Vorgehens „Abduktion“ genannt. Der Begriff Abduktion geht auf Charles Peirce zurück: „Deduktion beweist, daß etwas sein muß; Induktion zeigt, daß etwas tatsächlich wirkt, Abduktion legt nur nahe, daß etwas sein kann.“ (Charles Peirce, zit. nach Wirth 1999, S.170). Die Hypothese schließt mittels der Intuition von der Wirkung auf die Ursache.
Intuition
Die Intuition basiert auf dem Vertrauen in die eigenen Wahrnehmungen, Empfindungen und inneren Impulse. Sie kann nicht rational nachvollzogen werden.
Intuition ist ein Begriff mit Geschichte. Seit den alten Griechen hat sie ihren festen Platz in der Philosophiegeschichte. Darüber hinaus wurde sie in unserer Gesellschaft lange Zeit belächelt. Seit der Jahrtausendwende lässt sich eine grundlegende Veränderung beobachten. Das Thema Intuition findet zunehmend mehr Beachtung, auch in der Fachliteratur. So hat z. B. der Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin ein Buch mit dem Titel „Bauchentscheidungen“ veröffentlicht, in dem es um die Macht der Intuition geht.
Wie viel Intuition darf sein?
Intuition ist nicht alles und hat auch nicht überall Platz. In der Beratung ist sie eine Ergänzung zum analytischen und rationalen Denken. Je nach Kontext, Dienstleistung und Rolle des Beraters kann und muss Intuition unterschiedlich eingesetzt und genutzt werden. In einer Strategieberatung wird sie keinen expliziten Platz einnehmen, in einem Persönlichkeitscoaching hingegen, in dem es um ein Entscheidungsproblem geht, kann sie eine wichtige Rolle spielen. Über die Intuition haben wir Zugang zu unseren inneren Ressourcen und unserem unbewussten Erfahrungswissen. Intuitionen sind nicht, wie manchmal angenommen, irrational, sondern sie repräsentieren die persönliche Wirklichkeit. Man unterscheidet im Wesentlichen zwei Arten der Intuition: die Intuition als Urteilsbildung über die Wirklichkeit, als blitzschnelle Integration von Eindrücken aus verschiedenen Wahrnehmungssphären und die Intuition als Ahnung des Möglichen für eine Person, in einer Beziehung, eine Vision. Für Berater kann Intuition zu einer Art innerem Kompass werden, der wesentlich zur Orientierung in komplexen Situationen beiträgt. So wie man seine äußeren Sinne schärfen kann, kann man auch die Wahrnehmung der inneren Sinne weiterentwickeln durch Achtsamkeit, Präsenz und Zentrierung.
Literatur:
Adler, Alfred: Der nervöse Charakter. In Heilen und Bilden. Fischer, Frankfurt/M. 1973 (1913), S. 123-133
Fuchs-Brüninghoff, Elisabeth: Der rote Faden der Bewusstheit. In: Ulrike Lehmkuhl (Hg.):
Die Bedeutung der Zeit, Göttingen 2005, S. 75-94 Link
Gigerenzer, Gerd: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. München 2007
Wirth, Uwe: Diskursive Dummheit. Abduktion und Komik als Grenzphänomene des Verstehens. Heidelberg 1999
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